MILU, KAHIKI UND LANIKEHA
Schamanisch reisen mit Huna
Entgegen der weitverbreiteten Ansicht, daß Schamanen in allen
nativen Kulturen weltweit Trommeln oder Rasseln, also die rhythmische
Anregung benützen, um sich auf eine Reise in die nichtalltägliche
Wirklichkeit zu begeben, reisen Kahunas, die Meister des Huna, in
aller Stille. Sie nennen das schamanische Reisen auch eher schamanisches
Träumen".
Die Trommel, im speziellen die Kalebassentrommel, ist aber nichtsdestoweniger
ein wichtiges, auch rituelles Musikinstrument. Sie begleitet den
Kahiko, den heiligen Tanz, der sich ganz wesentlich von dem, was
die Hawaiianer CocaCola-Hula" nennen, unterscheidet. Im Tanz
werden die alten Mythen erzählt und dargestellt, jede einzelne
Geste hat eine genau definierte Bedeutung.
Wie gesagt, die Kahunas reisen ohne äußere, akustische
Unterstützung in ihre innere Welt, die Welt des Traums, nach
PO. Und sie unterscheiden dabei drei Bereiche, die zu ganz besonderen
Anlässen und aus besonderen Gründen aufgesucht werden:
MILU, die Unterwelt, das Reich der Alpträume, der personifizierten
negativen Emotionen, der großen Herausforderungen.
KAHIKI, die Mittelwelt, die unserer alltäglichen Wirklichkeit
am meisten gleicht.
LANIKEHA, die Oberwelt, der Ort, wo Götter und Göttinnen,
Naturgeister und mythologische Helden und Heldinnen zu Hause sind.
MILU ist der Bereich der Visionssuche, den Schamanen oft betreten,
um Macht zu gewinnen. Das kann bedeuten, daß ein Kahuna sich
auf dieser Ebene einer besonderen Herausforderung stellt und dann
aus dem bestandenen Abenteuer neue Kraft in die alltägliche
Wirklichkeit mitbringt, um anstehende Probleme, ihn selbst oder
seinen Stamm betreffend, zu lösen. Ebenso kann er in MILU ein
Heilmittel gegen eine ungewöhnliche Krankheit suchen, das er
aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen in der äußeren
Welt nicht finden konnte.
Nach MILU reist der Schamane nicht, um sein Verstehen, seine Weltsicht
zu erweitern und zu vertiefen. In MILU geht es um das Bestehen von
Herausforderungen der einfachen, mit allen inneren Sinnen erfassbaren
Art. Und genau das ist es, worauf es ankommt, sich die Unterwelt
und alle Hindernisse, die stellvertretend für bisherige emotionelle
oder mentale Beschränkungen stehen, so sinnlich und detailreich
wie nur möglich vorzustellen. Er muß sich mit allen Sinnen
dem anstehenden Thema stellen. Das Problem wird ihm daher in Gestalt
eines Ungeheuers, eines Monsters, einer Zauberei oder einer Naturgewalt,
zum Beispiel als Flutwelle, Erdrutsch oder Tornado, entgegenkommen.
Und er hat die Aufgabe, das Hindernis auf jeden Fall zu passieren.
Wie auch immer. Egal, ob der reisende Kahuna über das Ungeheuer
springt, unten durch kriecht, oder sich mittendurch bewegt, indem
er sich fressen läßt und sich am anderen Ende des Untiers
wieder zusammensetzt, - er darf sich nicht aufhalten lassen.
Bei meiner ersten Reise nach Milu ging es darum, meiner größten
Angst zu begegnen. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon,
was das sein könnte, akzeptierte aber, daß es für
Kahunas nicht so wichtig ist, Probleme zu analysieren. Noch weniger
sind sie darauf aus, die Ursachen zu ergründen. Sie meinen,
nach hinten zu schauen, sei nicht sehr effektiv, zu viel Energie
in die falsche Richtung. Kahunas anerkennen das Problem im Hier
und Jetzt und arbeiten an der Verwandlung und Auflösung desselben.
So war ich also in MILU unterwegs, begleitet von einem Schutzgeist
und schon sehr gespannt, was da auftauchen sollte. Und dann kam
das Ungeheuer, das meine größte Angst verkörperte,
auf mich zu: ein riesiger Stier, so groß wie ein Haus, aus
Erde geformt, stumpfbraun und rauh. Ein mächtiger Koloß,
der sich nicht sichtbar bewegte, aber doch immer näher rückte.
Ich zermarterte mir das Hirn, um einen Weg zur Bewältigung
zu finden, fand aber keine Lösung. Währenddessen kam das
Monster immer näher. Da mir nichts Besseres eingefallen war,
ging ich einfach unbeirrt am Wegrand weiter, machte Platz, ließ
mich aber nicht irritieren. Und siehe da - der Riesenbulle tat das
gleiche, er rückte weiter vor, ohne mich zu beachten. Und bevor
ich es richtig realisieren konnte, war mein Weg wieder frei, der
Stier an mir vorbei, das Abenteuer bestanden!
Für mich war die Erkenntnis, daß es gar nicht zwingend
notwendig ist, alle bisherigen Beschränkungen und Glaubensmuster
unter Schmerzen und schwierigen Auseinandersetzungen zu verändern,
daß ich auch ganz einfach daran vorbeileben" kann, daß
sie ihre Macht verlieren, wenn ich ihnen keine Beachtung schenke,
sie nicht mehr in mein Leben integriere, sehr lehrreich und wichtig.
Das bedeutet keineswegs, daß ich das Thema jetzt nur besser
verdränge, nein, in MILU habe ich das Problem auf die Art und
Weise der Kahunas für immer gelöst.
Nach der Überwindung des Hindernisses sucht der Schamane in
MILU ein Symbol, das stellvertretend für die neugewonnene Kraft
steht und das er in die alltägliche Wirklichkeit mitbringen
kann, entweder indem er es und die damit verbundene Energie in seinem
eigenen Körper plaziert oder indem er eine materielle Umsetzung
davon verwendet, um anderen Personen Kraft zur Bewältigung
ihrer Probleme oder zur Heilung zu vermitteln.
KAHIKI, die Mittelwelt, ähnelt am ehesten unserer alltäglichen
Wirklichkeit. Die meisten nächtlichen Träume, aber auch
Tagträume finden dort statt. Da für Kahunas Träume
durchaus real sind oder die Wirklichkeit ein Traum ist, gehen sie
davon aus, daß das Verändern dieser Träume auch
direkte Auswirkungen in der alltäglichen Wirklichkeit nach
sich zieht.
Eine der Techniken, die besonders dazu geeignet ist, die eigene
Befindlichkeit zu verbessern, möchte ich hier erklären:
Dazu betreten wir den inneren Garten durch einen Durchgang, eine
Pforte, ein Tor oder eine Lücke in einer Hecke und schauen
uns darin um. Wir betrachten alle Pflanzen und eventuell anwesenden
Tiere, Naturgeister oder anderen Besucher, aber auch alle anderen
Gegenstände, die zur Struktur dieses Gartens gehören:
Steine, Brunnen, Wege, Gartenmöbel usw. Und nun tun wir nichts
weiter als das, was eben zu tun ist. Wir richten umgefallene Pflanzen
wieder auf und begießen sie, wenn sie Wasser brauchen. Wir
bringen die Pflanzen, die sich nach Schatten sehnen, dorthin und
stellen die sonnenhungrigen ins pralle Licht. Wir entfernen, was
überflüssig oder störend ist, und fügen hinzu,
was gebraucht wird. Dabei gelten hier nur unsere eigenen Regeln,
es gibt keine gestalterischen Vorschriften, wie was zu sein hat.
Das entscheidende Kriterium ist nur, daß wir den Garten nach
unserem eigenen Empfinden in besseren Zustand versetzen, daß
er uns in seiner neuen Form gefällt, daß wir uns und
mit uns alle Bewohner sich im Garten wohlfühlen.
Wir arbeiten in unserem inneren Garten so lange, wie es uns richtig
und notwendig erscheint, und nehmen Eindrücke aus dem Garten
ganz bewußt sinnlich wahr. Das können das Summen von
Insekten, das Zwitschern von Vögeln oder das Plätschern
von Wasser sein, der Geruch von Erde und frischem Gras und der Duft
von Blumen oder auf der haptischen Ebene die Wärme der Sonnenstrahlen
auf der Haut, der kühle, nasse Stein von unserem Brunnenrand,
die rauhe Rinde eines Baumes oder das Fell eines Eichhörnchens,
das zu Besuch gekommen ist. Es ist unser Traum, und daher weiß
niemand besser als wir selbst, was sich richtig anfühlt und
was nicht. Wenn alles getan ist, verabschieden wir uns von unserem
Garten und seinen Bewohnern und verlassen ihn wieder auf demselben
Weg, auf dem wir ihn betreten haben.
Der Garten steht für unser eigenes Innenleben, und daher bewirkt
alles, was wir darin zum Besseren verändern, unmittelbar eine
Verbesserung unseres psychischen und physischen Zustands und ein
verändertes Er-Leben. Sooft wir wollen, können wir in
unseren Garten zurückkehren und ihn weitergestalten. Hier ist
immer Platz für Wachstum, Veränderung und neue Entwicklungen.
In KAHIKI gibt es noch viele andere Bereiche für unterschiedliche
schamanische Erfahrungen. Der Garten sollte nur ein Beispiel sein,
er ist aber auch geeignet als Ausgangspunkt für Reisen in die
Unter- und die Oberwelt.
LANIKEHA, die Oberwelt, ist nicht nur der Platz, wo übernatürliche
Mächte zu finden sind, es ist auch der Ort, wo Schamanen Inspiration
und göttlich Hilfe erlangen. In LANIKEHA sind die Tiergeister
aus Wasser und Festland zu finden, die analog zu den Huna-Prinzipien
die Kräfte des Gewahrseins (Delphin + Landvogel), der Freiheit
(Tintenfisch + Seevogel), der Ausrichtung (Hai + Eidechse), der
Ausdauer (Schildkröte + Ratte), der Liebe (Fisch + Schwein),
des Vertrauens (Wal + Fledermaus) und der Weisheit (Aal + Hund)
verkörpern.
Auch die sieben Göttinnen, die nach Auffassung der Kahunas
die Elemente vertreten, halten sich in LANIKEHA auf. Es sind dies
die Göttinnen des Meeres, des Windes, der Vulkane, der Steine,
der Pflanzen, der Tiere und der Menschen. Richtig, auch der Menschengeist
gilt als elementare Kraft!
Maui, der mythische Held, dem die Menschen so viel verdanken, wie
zum Beispiel die Geheimnisse des Feuers und der Landwirtschaft,
hat auch seinen Platz hier, wenn er es nicht gerade vorzieht, in
menschlicher Gestalt allerhand Verwegenes auszuprobieren. Er ist
in Hawaii so etwas wie ein urtümlicher Supermann, einer, der
sich sogar mit Göttern anlegt, wenn er etwas erreichen will.
Und natürlich wohnen hier auch alle anderen Götter des
traditionellen hawaiianischen Universums. LANIKEHA suchen die Kahunas
auf, wenn sie neue Ideen und Lösungen benötigen, wenn
sie in Gestalt eines Tiergeistes neue Erkenntnisse suchen und wenn
sie sich mit einer höheren Macht verbünden wollen.
Alle diese Bereiche der nichtalltäglichen Wirklichkeit werden
ihnen mithilfe einer bestimmten Atemtechnik, genannt PIKO-PIKO,
zugänglich. Dabei wird die Aufmerksamkeit mit dem Atem an bestimmte
Stellen des Körpers gelenkt, die nach dem hawaiianischen Konzept
den Energiezentren oder Chakren entsprechen: Scheitel, linke Schulter,
rechte Schulter, Herz, linke Hüfte, rechte Hüfte und Nabel.
Dadurch ist es sehr rasch und leicht möglich, in den Alphazustand,
also auf eine niedrigere Gehirnstromfrequenz, zu gelangen.
In der Vorstellung geht der Schamane dann nach KANALOA, ins Zentrum
der Stille, das eine Art Traum- oder Ideallandschaft ist, oder direkt
in den inneren Garten. Auf jeden Fall sucht er sich dann je nach
Zielrichtung eine Öffnung im Boden, um in die Unterwelt zu
reisen, und erklettert einen Baum oder Berg, beziehungsweise wagt
einen gewaltigen Sprung, um die Oberwelt zu erreichen. Dieser zuletzt
beschriebene Teil der schamanischen Reise unterscheidet sich am
wenigsten von den Vorstellungen in anderen Traditionen.
Mir gefällt an Huna die grundsätzliche Auffassung, daß
jede Situation, egal auf welcher Bewußtseinsebene, als Abenteuer
betrachtet wird, das es möglichst lustvoll und kreativ zu bestehen
gilt. Flexibilität ist ein hoher Wert, starre Regeln gibt es
nicht. Da die Welt ist, wofür wir sie halten, steht es uns
jederzeit frei, die schönste, liebevollste und farbigste im
Traum zu erschaffen und in ihr zu leben. Sind das nicht wunderbare
Aussichten?!
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